Mit einem neuen Leitfaden zum Thema reinheitsgerechte Gestaltung von Materialflüssen entlang des Wertstroms macht das Institut für Produktionssysteme der Fakultät Maschinenbau an der Technischen Universität Dortmund auf sich aufmerksam. Welchem Ansatz folgt der Leitfaden des Forschungsprojektes „ReiMaFlu“ und welche systemische Sichtweise liegt dem Projekt zu Grunde? Wir haben nachgefragt.
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Restschmutzanalyse-Labor am Institut für Produktionssysteme (IPS) in Dortmund (Foto: IPS – TU-Dortmund)
Seit April 2012 wird am Institut für Produktionssysteme der Fakultät Maschinenbau an der Technischen Universität Dortmund an einem Leitfaden zur reinheitsgerechten Gestaltung von Materialflüssen entlang des Wertstroms (ReiMaFlu) gearbeitet. Die Projektlaufzeit wurde im März 2014 abgeschlossen. Die Ergebnisse werden nunmehr in Form eines neuen Leitfadens zusammengefasst und nach Fertigstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Gespräch mit den wissenschaftlichen Mitarbeitern *Dipl.-Ing. Matthias Krebs und *Dipl.-Wirt.-Ing. Ronny Zwinkau.
Das Projekt „Entwicklung eines Leitfadens zur reinheitsgerechten Gestaltung von Materialflüssen entlang des Wertstroms (ReiMaFlu)“ begann 2012 und wurde nunmehr erfolgreich beendet. Was war der Auslöser, einen solchen Leitfaden zu entwickeln?
Das Institut für Produktionssysteme (IPS) unter Leitung von Prof. Jochen Deuse beschäftigt sich unter anderem mit der Analyse und Gestaltung von Wertströmen. Unser Ziel ist es, dem idealen Wertstrom, d.h. Fertigung im Kundentakt, kontinuierlicher Einzelstückfluss, 100% Wertschöpfung, 100% Stabilität und Null-Fehler, durch eine systemische Betrachtung des Wertstroms ein Stück näher zu kommen. In vielfältigen Projekten mit Industriepartnern unterschiedlicher Branchen ist uns immer wieder aufgefallen, dass Reinigungsprozesse in ihrer derzeitigen Ausführung als zumeist Batch-Prozesse hohe Materialbestände binden und kleine Losgrößen nur schwer realisierbar machen.
Motiviert von diesen Erfahrungen beschäftigen wir uns seit dem Jahr 2008 mit dem Thema Technische Sauberkeit. Unser erstes Forschungsprojekt in Zusammenarbeit mit dem Fachgebiet Maschinenelemente der Technischen Universität Dortmund und den Unternehmen vibro-tec und Neuhäuser Magnet- und Fördertechnik, welches als wesentliche Vorarbeit für ReiMaFlu diente, war die Weiterentwicklung des Vibrationsreinigungsverfahrens für die industrielle, ressourcenschonende Bauteilreinigung (ViReBa). Als Ergebnis des Projektes stand zum einen die Erkenntnis, dass in vielen Fällen die Vibrationsreinigung unmittelbar in die Fertigungslinie integriert werden kann, wodurch es möglich ist, unnötige Transportoperationen zu vermeiden und die Durchlaufzeit der Bauteile erheblich zu reduzieren.
Zum anderen kamen wir zu dem Schluss, dass der Fokus von der reinen Betrachtung des Reinigungsprozesses auf den gesamten Wertstrom zu erweitern ist, um den aktuellen und zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden und eine effiziente und reinheitsgerechte Planung zu ermöglichen. Dabei müssen insbesondere Materialflussoperationen im Planungsprozess berücksichtigt werden, denn nur mit ihnen kann ein durchgängiges Konzept für einen sauberkeitsgerechten Wertstrom entstehen. Gerade bei einer starken organisatorischen Trennung einzelner Abschnitte des Wertstroms und Outsourcing von Logistiktätigkeiten reicht es nicht, wenn sich jeder Bereich für sich optimiert. Hier bedarf es einer übergeordneten Betrachtungsweise und eines durchgängigen Konzeptes.
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Baustein zur Gestaltung eines reinigungsgerechten Wertstroms (Foto: IPS – TU-Dortmund)
Reinheitsanforderungen an Bauteile nehmen stetig zu. Ist dieses Thema aus Ihrer Sicht inzwischen in allen sauberkeitsrelevanten Bereichen der industriellen Fertigung angekommen?
Sie haben Recht, das Qualitätsmerkmal „Technische Sauberkeit“ gelangt durch die Entwicklung immer kleinerer und filigranerer Bauteile mit geringen Maßtoleranzen und hochwertigen Oberflächen zunehmend an Bedeutung. In der Halbleiterfertigung ist das Thema jedoch nicht neu und man hat sich hier mit entsprechender Reinraumtechnik eingerichtet. In Branchen wie dem Maschinen- und Anlagenbau wird die Technische Sauberkeit vereinzelt thematisiert.
In der Automobilindustrie dagegen ist das Thema Technische Sauberkeit aktuell sehr brisant, da hier die Technische Sauberkeit eine Leistungsanforderung geworden ist, die es zu erfüllen gilt, um am Markt zukünftig bestehen zu können. Die Frage, die im Zuge dessen aufkommt, ist, wie viel Sauberkeit an welcher Stelle notwendig ist und welche Maßnahmen ergriffen werden können, um diesen Anforderungen möglichst effizient und mit geringen Kosten nachzukommen.
Der neue Leitfaden, der im Rahmen eines recht langfristigen Projekts entwickelt wurde, folgt ganz bestimmten Ansätzen. Um welche handelt es sich und warum reicht es nicht mehr aus, den Fokus allein auf die Betrachtung des Reinigungsprozesses zu legen?
Dipl.-Ing. Matthias Krebs
(Foto: IPS – TU-Dortmund)
Wir erleben immer wieder die Diskussion, dass es einfacher sei, Verunreinigungen abzureinigen als sie zu vermeiden. Auf der anderen Seite wollen viele Unternehmen Ganzheitliche Produktionssysteme implementieren. Ein Ganzheitliches Produktionssystem fokussiert sich im Kern auf die Vermeidung jeglicher Art von Verschwendung.
Eine der sieben Arten der Verschwendung ist die unnötige Bearbeitung eines Bauteils. Dabei wird angestrebt, diese nicht erforderlichen Schritte für die Herstellung eines Produktes möglichst zu eliminieren bzw. auf ein notwendiges Minimum zu reduzieren. Somit ist ein Reinigungsprozess im Wertstrom, der durch organisatorische und technische Maßnahmen, wie z. B. die Vermeidung von Rückverschmutzung bei Materialflussoperationen, überflüssig sein könnte, im Sinne Ganzheitlicher Produktionssysteme, Verschwendung. Durch die reinheitsgerechte Gestaltung des Wertstroms wollen wir genau das vermeiden.
Ferner verfolgen wir die Hypothese, dass sich die Sauberkeit eines Bauteils mit jedem Prozess, den es im Wertstrom erfährt, verändert. Dabei können die Prozesse die Verunreinigungsmenge reduzieren (z. B. Reinigen), erhöhen (z. B. Fertigung, Montage) oder konstant halten (z. B. Materialflussoperationen). Nun ist es weder sinnvoll noch wirtschaftlich, Bauteile nach jedem Prozess zu reinigen. Bei der Wertstrombetrachtung werden alle Prozesse sowie deren Interaktion untereinander vom Systemeingang bis zum Systemausgang betrachtet. Die Interaktion zwischen zwei Prozessen kann dabei als Kunden-Lieferantenbeziehung verstanden werden. Um negative Auswirkungen auf das Bauteil oder den Prozess zu vermeiden, müssen die Sauberkeitsanforderungen des Kundenprozesses durch den Lieferantenprozess erfüllt sein. Wichtig dabei ist, dass die Anforderungen nicht nur am Prozessausgang des Lieferantenprozesses sondern am Prozesseingang des Kundenprozesses erfüllt sein müssen.
Das heißt, dass Sauberkeitszustände, welche einmal erreicht wurden, durch Materialflussoperationen, wie Lagern, Fördern oder Kommissionieren möglichst beibehalten werden sollten. Geschieht dies nicht, kann es vorkommen, dass Bauteile nach der spanenden Fertigung gereinigt werden und nach Lagerung und Transport zum Montageort nochmals eine Reinigung erfahren. Diese Nacharbeit sehen wir als Verschwendung an. Die Betrachtung der Materialflussoperationen und der Erhalt einmal erreichter Sauberkeitszustände durch die Analyse von Einflussfaktoren auf die Technische Sauberkeit sind das Ziel von ReiMaFlu.
Grundlage des Projektes war es demnach, einen Leitfaden zu entwickeln, der den gesamten Wertstrom betrachtet?
Dipl.-Wirt.-Ing. Ronny Zwinkau
(Foto: IPS – TU-Dortmund)
Sauberkeit ist das Fehlen kritischer Verunreinigungen. Dabei ist zwischen kritischen Verunreinigungen für den internen Kunden (nachfolgende Prozesse) und externen Kunden (bspw. OEM) zu unterscheiden. Durch die Einbeziehung aller Prozesse und Anforderungen vom Systemeingang bis zum Systemausgang ist durch die Wertstrombetrachtung eine umfassende Analyse gewährleistet.
Der Ansatz von ReiMaFlu ist die Entwicklung eines methodischen Vorgehens mit dessen Hilfe Einflussfaktoren auf die Technische Sauberkeit identifiziert und deren Risiko bewertet werden können. Damit liefern wir ein Vorgehen, mit dem die Fragestellung beantwortet werden kann, wo Verunreinigungen auftreten, die in Folgeprozessen kritisch für das Produkt oder den Prozess sein können.
Welche Voraussetzungen sind für solche, allumfassenden Betrachtungen notwendig?
Die erste Voraussetzung ist ein „Wertstromverständnis“, d.h. das Bewusstsein, dass alle Prozesse, welche ein Produkt entlang seiner Entstehung erfährt, Einfluss auf das Qualitätsmerkmal „Technische Sauberkeit“ haben und gleichzeitig Anforderungen an deren vorhergehende Prozesse stellen. Weiterhin ist es wichtig, die Sauberkeitsanforderungen eines jeden Prozesses quantifizieren und kritische Verunreinigungen benennen zu können. Zum dritten müssen die Einflussfaktoren auf die identifizierbar und bewertbar gemacht werden. Ideal für uns Ingenieure wäre eine mathematische Beschreibung des Einflusses einzelner Einflussfaktoren auf die Technische Sauberkeit des Bauteils. Dies lässt sich jedoch durch die Vielzahl der Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen noch nicht ermitteln und führt uns zu dem Dilemma, dass zur Bestimmung einer solchen Veränderungsfunktion derzeit kaum Daten vorhanden sind und die Erhebung einen sehr hohen Aufwand erfordert.
Aus diesem Grund haben wir uns im ersten Schritt auf die Entwicklung eines Vorgehens zur Risikobewertung von Einflussfaktoren fokussiert, um eine Grundlage für einen Aufbau einer Daten- und Wissensbasis für die Berücksichtigung der Technischen Sauberkeit im Produktentstehungsprozess zu erstellen. Auch hier hilft uns der systemische Ansatz der Wertstrombetrachtung. Sie können einen Wertstrom auf unterschiedlichen Ebenen betrachten. Ein Wertstrom kann hinsichtlich Einflussfaktoren auf die Sauberkeit sowohl auf der Wertstromebene (bspw. das Raumkonzept) über die Prozess- und Subprozessebene (bspw. Transportmittel und Behälter) bis auf Vorgangsebene (bspw. Art der Handschuhe des Mitarbeiters) untersucht werden. Damit lassen sich Einflussfaktoren bestimmen, welche allgemein für den Wertstrom gelten und Einflussfaktoren, welche speziell in einem Prozess relevant sind. Mit dieser Vorgehensweise lässt sich der Aufwand für die Risikobewertung ein Stück weit eingrenzen.
Das Institut für Produktionssysteme (IPS) ist der Fakultät Maschinenbau / TU-Dortmund angegliedert
(Foto: Technische Universität)
Mit welchen Vorteilen können Unternehmen rechnen, die eine ganzheitliche Betrachtung zum Ansatz bringen?
Die Vorteile für Unternehmen liegen primär im strukturierten Aufbau von Wissen über den Prozess, dessen kritische Verunreinigungen und welche Einflussfaktoren zur Erzeugung dieser Verunreinigungen führen können. Dieses Wissen kann frühzeitig in den Produktionsplanungsprozess einfließen. Wie bei jedem anderen Qualitätsmerkmal auch, ist dies insofern von großer Bedeutung, dass die frühzeitige Berücksichtigung von Sauberkeitsaspekten in jeder Planungsdisziplin und Planungsphase präventive Maßnahmen ermöglicht anstatt im Nachhinein reaktiv handeln zu müssen.
An wen wendet sich die im Projekt erarbeitete methodische Vorgehensweise explizit?
Die Ergebnisse von ReiMaFlu werden durch die Adaption bestehender Methoden, wie bspw. der Wertstromanalyse und der Fehlermöglichkeits- und Einflussanalyse (FMEA) in vielen Unternehmen, auch kleiner und mittlerer Größe, anwendbar sein.
Darüber hinaus können mit Hilfe der Methodik eine nachhaltige Wissensbasis zur reinheitsgerechten Materialflussgestaltung aufgebaut und die anwendenden Mitarbeiter in den Unternehmen für die Technische Sauberkeit sensibilisiert werden. Langfristig möchten wir mit unserem Vorgehen die Unternehmen in die Lage versetzen, innerhalb des Wertstroms Reinigungsschritte einzusparen, wenn sichergestellt wird, dass Bauteile nicht durch Materialflussoperationen rückverschmutzt werden. Die Einsparung eines Reinigungsschrittes bedeutet eine unmittelbare Kostenersparnis, sofern der Aufwand für den reinigungsgerechten Materialfluss die Einsparungen nicht übertrifft.
Gibt es bereits positive Resonanz auf das Projekt „ReiMaFlu“ und sind Weiterentwicklungen im Gespräch bzw. geplant?
Bisher ist unser systemischer Ansatz auf großes Interesse, insbesondere in der Automobilindustrie, gestoßen. Durch die Adaption bestehender Methoden auf die Technische Sauberkeit können wir uns hier sehr schnell zielgerichtet austauschen ohne die Ansätze umfassend erklären zu müssen. Gleichzeitig stellen wir fest, dass wir bei der Identifikation und Bewertung der Einflussfaktoren noch am Anfang stehen und dass es noch einiger Anstrengungen bedarf, die Zusammenhänge und Wirkbeziehungen zwischen den Einflussfaktoren und der Sauberkeit eines Bauteils zu verstehen und abzubilden.
Die Forschung ist hier ein Stück weit auf die Industrie angewiesen. Anders als bei der Erforschung von Fertigungstechnologien unter Laborbedingungen und den Transfer in die Industrie müssen wir im Themenfeld Technische Sauberkeit Einflussfaktoren im industriellen Umfeld untersuchen.
Das Institut für Produktionssysteme möchte auf jeden Fall weiter in diesem spannenden und relevanten Themenfeld forschen, um dem Ideal einer Null-Fehler-Produktion ohne Verschwendung näher zu kommen und die Prozesse der industriellen Fertigung besser zu verstehen.
- Das Interview führte Ursula Pidun -
*Vita Matthias Krebs (Jahrgang 1982)
studierte Maschinenbau an der Technischen Universität Dortmund und arbeitet seit 2008 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Produktionssysteme, Professur für Arbeits- und Produktionssysteme. Aus dem Forschungsfeld des Industrial Engineering kommend, befasst sich das Institut insbesondere mit der Planung von Produktionssystemen und der Gestaltung der dortigen Wertströme. Krebs befasst sich in diesem Zusammenhang mit der frühzeitigen Integration der Sauberkeitsplanung in die allgemeine Planung von Produktionsprozessen, um sauberkeitsrelevante Aspekte bereits in frühen Planungsphasen und disziplinübergreifend zu berücksichtigen.
Durch die Mitarbeit an zwei Forschungsprojekten im Themenfeld der Technischen Sauberkeit konnte er umfangreiche Erfahrungen unternehmensübergreifend in der Automobilindustrie sowie im Maschinen- und Anlagenbau sammeln.
*Vita Ronny Zwinkau, (Jahrgang 1985)
studierte an der Dualen Hochschule Stuttgart und anschließend am KIT in Karlsruhe Wirtschaftsingenieurwesen. Seit seinem Wechsel 2012 von einem Beratungsunternehmen der Automobilindustrie an das Institut für Produktionssysteme, Professur für Arbeits- und Produktionssysteme arbeitet Herr Zwinkau als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter des Forschungsprojektes „ReiMaFlu- Reinheitsgerechte Materialflusssysteme“. Das IGF‐Vorhaben der Forschungsvereinigung Gesellschaft für Verkehrsbetriebswirtschaft und Logistik e.V. zielt auf die Entwicklung eines Konzepts zur Gewährleistung der Bauteilsauberkeit bei innerbetrieblichen Materialflussoperationen ab. Mithilfe eines Auswahlleitfadens sollen Unternehmen dazu befähigt werden, ihre Materialflüsse reinheitsgerecht zu planen, abzubilden und kritisch hinsichtlich Sauberkeit zu überprüfen.
Die Technische Universität in Dortmund stellt sich vor:
http://www.youtube.com/watch?v=VtkK70sB1aI
Verweise:
Leitfaden der Elektrotechnik konkretisiert VDA 19
Technische Sauberkeit in der Elektrotechnik – Interview mit Marc Nikolussi
Restschmutz vermeiden – aber wie?
Sauberraum trifft Reinraum – Sauberkeitsbereiche gemäß VDA19.2
Reinraum der Klasse 1 im INA der Uni Kassel – Interview mit Dr. rer. nat. habil. Martin Bartels
Reinster Reinraum – Interview mit Dipl.-Biol. Markus Keller
Der reinste Reinraum der Welt
Reinraumtechnik -Interview mit Dr. Lothar Gail
Interview mit Dipl.-Ing. Hans Illig